Mallorca-Krimis und einiges mehr
 

Leseprobe  - Deutsch

 Juli 1998

 Jürgen

Die Welle rollt auf mich zu, türmt sich meterhoch vor mir auf, ihr Sog zerrt an meinen Füßen, gleich werden ihre Wassermassen sich auf mich stürzen. 

Mein Körper strafft sich, in meinem Bauch dehnt sich das Kribbeln aus, ich zwinge mich zu warten - die Sekunden dehnen sich - bis ich mich mit den Beinen 

kräftig abstoße und in die Welle hineinspringe, so hoch wie möglich dem Kamm entgegen, um ihre Dynamik zu nutzen und in rasender Fahrt ans Ufer zu gleiten.  

Ich glitt nicht. Der Sprung fand nicht statt. Der Befehlsimpuls meines Gehirns erreichte mein Bein nicht, das perfekte Zusammenspiel von Muskeln und Sehnen versagte. 

Mein Bein knickte unter mir weg. Die sich überschlagende Welle übernahm die Gewalt. Die Wassermassen erschlugen, erdrückten und verschlangen mich. 

Mein Körper wurde ihr Spielzeug, sie warfen mich wie einen Ball auf den Sand, gaukelten mir einen kurzen Augenblick Sicherheit vor, bevor sie ihr Spiel fortsetzten und mich erneut mit ihren riesigen Fangarmen hochhoben, herumwirbelten und mich von einer Welle zur anderen schleuderten. Ich war ihnen ausgeliefert, jede Orientierung verlor sich in dem raschen Wechselspiel des Oben und Unten.  

Der raue Sand schürfte meinen Körper schmerzhaft auf, erfolglos versuchte ich, auf die Beine zu kommen, den Kopf wieder über Wasser zu bringen. 

Die Welle siegt, dachte ich in diesem Moment resignierend, das Salz des Meeres wird meinen Körper auflösen, und ich werde auf ewig in den Wellen schaukeln. 

Okay, dann lasst mich ein Teil von euch werden, ihr Wellen.  

Mein Bein, was war an jenem Tag mit meinem Bein los? Wie Wackelpudding ist es unter mir weggewabbelt! Warum?  

An jenem Tag im April - während unseres Urlaubs auf Fuerteventura vor drei Monaten - wäre ich beinahe ertrunken. 

Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Moment.

 Als ich wieder zu mir kam, sah ich … 

„Herr Ludwig?“  Ich blicke hoch, muss mich aus meinen Erinnerungen lösen, mich der Gegenwart stellen. 

Der Stationsarzt steht neben mir und drückt mir einen mehrseitigen Fragebogen in die Hand. Fakt ist, ich habe vor Wochen einen Termin für eine Untersuchung 

bei einem als Schlaganfallspezialisten bekannten Chefarzt ausgemacht, jetzt stehe ich in einem Krankenhausflur, vor mehreren Sprechzimmern, um vor dem ersten Behandlungsgespräch einige Untersuchungen zu absolvieren.  

„Bitte notieren Sie möglichst genau Ihre Beschwerden auf diesem Bogen. Für die Diagnose interessieren uns alle Begebenheiten, die aus dem normalen Umfeld rausfallen und füllen Sie den Fragebogen hier aus, bevor wir mit den anderen Untersuchungen anfangen.“  

Ich nehme die Blätter und blicke mich um. 

„Sie finden am Ende des Ganges Sitzgelegenheiten und einen Tisch. Vor dem Fenster ist ausreichend Tageslicht.“  

Der Mann im weißen Kittel zeigt auf eine Sitzgruppe. Ich sehe den Kittelträger an, schätze ihn auf Anfang dreißig, mir fallen seine rotblonden, 

über der Stirn abstehenden Haare auf, die mit Gel auf Stand gebracht sind. 

Er könnte mein Sohn sein. Ich fühle mich alt. 

Widerwillig setze ich mich auf den hellblauen Plastikstuhl, der vor dem Tisch steht. Mein Blick fällt auf die sorgfältig in zwei Stapeln angeordneten Zeitschriften und Hinweisheftehen.  

„Jede Sekunde ist wichtig für den Schlaganfallpatienten Rettungsdienstkette hat sich hervorragend bewährt“, lautet die Überschrift auf dem Hochglanzpapier der Broschüren. Das Cover zeigt ein Team von Ärzten und Sanitätern in roter Bekleidung lachend aus einem Hubschrauber steigend, als würden sie von einem Bergausflug zurückkehren und sich auf die gemeinsame Jause freuen.  Panik erfasst mich. Ein kurzer Fluchtimpuls durchzuckt meinen Körper. 

Geh einfach, sagt mir meine innere Stimme. 

Dann frage ich mich: Was bist du? 

Ein Schisser, eine Memme, ein Weichei, ein Angsthase, ein Schlappschwanz, ein Warmduscher, ein Kleinkind, oder was? -Nein, denke ich. Du bist ein Mann von 54 Jahren!  Ich lege das Papier vor mich hin, überlege. 

Es fällt schwer, schwarz auf weiß zu bekennen, dass einiges nicht mehr stimmt, schwieriger geworden ist.  


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