Auszug aus dem 1. Teil des Romans: "Zum Weinen ist die Zeit
zu schade",Reihe Erfahrungen im Bastei Lübbe Verlag, ISBN
3-404-61574-3, Oktober 2005.
Die Welle rollt auf mich zu, türmt sich meterhoch vor mir
auf, ihr Sog zerrt an meinen Füssen, gleich werden ihre Wassermassen
sich auf mich stürzen. Mein Körper strafft sich, in meinem
Bauch dehnt sich das Kribbeln aus, ich zwinge mich zu warten - die
Sekunden dehnen sich - bis ich mich mit den Beinen kräftig
abstoße und in die Welle hineinspringe, so hoch wie m?glich
dem Kamm entgegen, um ihre Dynamik zu nutzen und in rasender Fahrt
ans Ufer zu gleiten.
Ich glitt nicht. Der Sprung fand nicht statt. Der Befehlsimpuls
meines Gehirns erreichte mein Bein nicht, das perfekte Zusammenspiel
von Muskeln und Sehnen versagte. Mein Bein knickte unter mir weg.
Die sich überschlagende
Welle übernahm die Gewalt. Die Wassermassen erschlugen, erdrückten
und verschlangen mich. Mein Körper wurde ihr Spielzeug, sie
warfen mich wie einen Ball auf den Ufersand, gaukelten mir einen
kurzen Augenblick Sicherheit vor, bevor sie ihr Spiel fortsetzten
und mich erneut mit ihren riesigen Fangarmen hochhoben, herumwirbelten
und mich von einer Welle zu anderen schleuderten. Ich war ihnen
ausgeliefert, jede Orientierung verlor sich in dem raschen Wechselspiel
des Oben und Unten.
Der raue Sand schürfte meinen Körper schmerzhaft auf,
erfolglos versuchte ich, auf die Beine zu kommen, den Kopf wieder
über das Wasser zu bringen. Die Welle siegt, dachte ich damals
resignierend, das Salz des Meeres wird meinen
Körper auflösen, und ich werde auf ewig in den Wellen
schaukeln. Okay, dann lasst mich ein Teil von euch werden, ihr Wellen.
Mein Bein, was war an jenem Tag mit meinem Bein los? Wie Wackelpudding
ist es unter mir weggewabbelt! Warum?
"Herr Ludwig?"
Ich blicke hoch, muss mich aus meinen Erinnerungen lösen, mich
der Gegenwart stellen. Der Stationsarzt steht neben mir und drückt
mir einen mehrseitigen Fragebogen in die Hand. Fakt ist, ich habe
vor Wochen einen Termin für eine Untersuchung bei einem als
Schlaganfallspezialisten bekannten Chefarzt ausgemacht, jetzt stehe
ich in einem Krankenhausflur, vor mehreren Sprechzimmern, um vor
dem ersten Behandlungsgespräch einige Untersuchungen zu absolvieren.
"Bitte notieren Sie möglichst genau Ihre Beschwerden auf
diesem Bogen. Für die Diagnose interessieren uns alle Begebenheiten,
die aus dem normalen Umfeld rausfallen und füllen Sie den Fragebogen
hier aus, bevor wir mit den anderen Untersuchungen anfangen."
Ich nehme die Blätter und blicke mich um.
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